KEIN WEIHNACHTSTREFFEN MIT ...
THOMAS KLING
RITA MIE
Es war gar nicht zur Weihnachtszeit, sondern während einer Ausstellung in der Benrather Orangerie, als ich mit Thomas Kling zusammentraf. Angeregt durch die Betrachtung des Deckengemäldes, das Actaeon zeigt, wie er Diana im Bade beobachtet, die ihn bestraft und ihn von seinen eigenen Jagdhunden zerfleischen lässt, entdecke ich ihn, sinnend am Kamin stehend und bitte ihn, doch seine Version des Mythos vorzutragen. Ohne zu Zögern beginnt er, mit seiner ausdrucksvollen Stimme seine Texte zu Acteon 1-5 präzise und lautmalerisch artikuliert vorzutragen. Ich lausche beeindruckt und gebe zum besseren Verständnis hier eines seiner Gedichte aus seinem Zyklus wieder:
Actaeon 2
(für Mauritius Wenner)
so wird die akte Actaeons geschlossen. an einem fluß.
ein schlechtgetarnter und ertappter voyeur, der haar
und haut der badenden genau betrachtet hat. ihr pfiff:
schon springen Actaeon die eigenen hunde an, die haben
ihn sofort an hals und gurgel. es geht dann alles superschnell:
die linse eingespritzt, nicht nur mit speichel. hundegeifer
hat im nu dem seinen körper überzogen. gebisse, risse
gehen durch den Actaeon; die beinah stumme männer-
gurgel. so ohne körper, ohne strom; dabei beguckt: der
löst, als hirschenschrei, sich auf: die blicktransfusionen,
die nichts nützen können; kann, mit neuen, lauten augen,
Actaeon sehen die augen der frau? schweigsame augen.
ohne lust. es mag die meute ihren Actaeon! wie sie sein
hirschfleisch lieben, seine augenkamera! und hören nicht
auf ihre namen so wird die akte Actaeon geschlossen.
In den weiteren Gedichten des Zykus wird der Mythos sprachgewaltig weiterentwickelt, ich erfahre, was mit Actaeon geschieht, nachdem die Hunde ihn zerrissen haben. Von Tellern von Fleischbergen ist die Rede, vom begierigen Einverleiben des Fleisches, „wir ziehen uns den rein“ (Acteon 3), von seiner Lagerung im Kühlhaus „in blauen Wintern eingeeist“, dem mechanischen Zerteilen „elektrisch frisst die knochensäge, singt sich durch die hirschwelt durch“ (Acteon 4) bis hin zur weiterführenden Wertung „antike, beschleunigt als jagdstück. wie schlafstörungen das licht.“ (Actaeon 5).
Irritiert, überrascht und fasziniert schaue ich den Vortragenden an und merke, dass ich anfange, den alten Mythos differenzierter zu betrachten, ihn mit anderer Perspektive wahrzunehmen. In dieser sprachlichen Verdichtung seiner Texte erkenne ich auch aktuelle Bezüge, die heutige Entwicklungen kritisieren. „Na, endlich, wird auch Zeit!“, höre ich ihn murmeln und sehe ihn hastig hinauslaufen.
Beim Verlassen der Orangerie bedaure ich, dass wir nicht mehr in den Genuss kommen, Thomas Kling in die Montagsprosa einzuladen, er starb zu früh. Was bleibt, sind die Erinnerungen an seine ungewöhnlichen Lesungen, die als gekonnte Selbstinszenierungen seiner Texte verstanden werden können. Wer sie miterleben konnte, wird sie nicht vergessen. Lebte er noch, er hätte uns zu unserer gesellschaftspolitischen Entwicklung viel Kritisches zu sagen.
Seine Texte bleiben uns zum Glück, sie sind herausfordernd, doch regen sie mich immer aufs Neue an, sie zu entdecken.
Weihnachten werde ich auf Hirschbraten verzichten.